Kunstgeschichte


Die trunckene Alte

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Die trunkene Alte

Unsere Sammlung bietet die Möglichkeit, einem Gipsabguß der Trunkenen Alten in der Münchener Glyptothek den Abguß der zweiten Kopie in Rom gegenüberzustellen. Während der Münchener Abguß den originalen Bestand wiedergibt, sind am römischen Gips Teile der Gliedmaßen, des Rückens und vor allem der Kopf ergänzt. Beide Statuen geben das hellenistische Original einer betrunken am Boden hockenden Frau wieder. Mit ihren Armen hält die Alte eine riesige Kanne (Lagynos) umfangen, deren Inhalt sie offensichtlich zum größten Teil bereits geleert hat, wie ihr berauschter, nach oben gewandter Blick zeigt. Bevor sie sich hier niedergelassen hatte, waren ihre reichen Gewänder wohl geordnet, doch nun ist ihr der Träger des Untergewands weit herabgerutscht und der Mantel zu Boden geglitten. In scharfem Gegensatz zu den edlen Gewändern, der schön gebundenen Haube und ihrem Ohr- und Fingerschmuck steht die krasse Schilderung des alterswelken Körpers. So zeichnen sich z.B. unter der runzligen Haut, die sich über den abgemagerten Leib spannt, der Kehlkopf und die Schlüsselbeine deutlich ab.

Für den antiken Betrachter muß der Eindruck des körperlichen Verfalls noch weitaus bedrängender gewirkt haben, war er doch in der Regel von Frauen nur Darstellungen mit ebenmäßigen Körperformen und in idealem Alter gewöhnt.

Der pyramidale Aufbau der Alten und ihre Rundansichtigkeit ermöglichen zusammen mit der naturalistischen Alterscharakterisierung eine Datierung in den früheren Hellenismus. Die beiden römischen Kopien geben das hellenistische Original unterschiedlich wieder. Die vollständiger erhaltene Statue in der Münchener Glyptothek entstand im frühen 1. Jh.n.Chr. In der veristischen Schilderung der Alterszüge kommt sie dem hellenistischen Original näher als die kapitolinische Kopie des frühen 2. Jh.n.Chr., die Einzelheiten des Gewandes kursorischer wiedergibt und die veristische Alterscharakterisierung z.B. an der nackten Schulter und Brust beschönigt. Das hellenistische Vorbild muß man sich in der Wiedergabe des Fleisches und der unterschiedlichen Stoffqualitäten eher noch differenzierter vorstellen als die Münchener Replik. Vermutlich war das Original aus Marmor und wirkte durch seine bunte Bemalung noch lebendiger.

Die ältere Forschung verband die Trunkene Alte gelegentlich mit der bei Plinius (nat. hist. 36, 32) für Smyrna überlieferten „anus ebria“ des Myron, der für seine Erzwerke berühmt war. Vermutlich liegt hier jedoch eine Verwechslung mit dem'bekannten Erzbildner des 5. Jh. vor. Zwar sind auch für die hellenistische Zeit mehrere Bildhauer namens Myron inschriftlich belegt, doch läßt sich unsere Statue mit keinem von ihnen sicher in Verbindung bringen.

Auf Grund ihrer großen Lagynos wurde die Figur der Trunkenen Alten mit dem von Ptolemaios IV Philopator (221-204) eingerichteten Lagynophorienfest in Alexandria in Verbindung gebracht, von dem der alexandrinische Philologe Eratosthenes (Athenaios, Deipnosophistai VII 276 b) berichtet. Zu diesem Fest lagerten sich die Teilnehmer auf Streu und brachten sich ihr Essen selbst mit, außerdem hatte jeder eine Lagynos dabei. Vermutlich wurde ihnen der Wein dafür vom Herrscher gestellt. Eratosthenes berichtet außerdem von einer Äußerung der Königin Arsinoe über die Teilnehmer des Festes: „Das wird eine schmutzige Gesellschaft sein. Denn da muß ja ein bunt gemischter Haufen zusammenkommen, der sich selbst ein nach Stall stinkendes Fest bereitet.“

Die heruntergekommene alte Frau, die einst bessere Tage gesehen hatte, ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Gestalt aus diesem „Haufen“. Wir kennen auch Darstellungen anderer Teilnehmer dieses Festes, wie z.B. die Bronzestatuetten von buckligen Sklaven, die mit einem Hahn in der einen Hand und einer Lagynos in der anderen zum Fest eilen, doch sind diese Figuren im Gegensatz zur Trunkenen Alten alle nur wenige Zentimeter groß.

. Um die Frage zu klären, warum unter den unterschiedlichen Festteilnehmern gerade die Figur einer alten Frau für eine großplastische Darstellung ausgewählt wurde, müssen wir das Motiv der betrunkenen alten Frau zurückverfolgen in die Zeit der attischen Komödie. Dort war der Typus der alten Vettel vor allem im 4. Jh. äußerst beliebt. Häufig wurde sie als alternde Hetäre geschildert, die sich nicht damit abfinden konnte, daß der Zeitpunkt ihrer Blüte vorbei war und sich deshalb nach wie vor in prächtige, meist durchsichtige Gewänder kleidete oder gar halbnackt auftrat, sich übermäßig schminkte, den Männern nachlief und häufig Wein aus großen Gefäßen trank. Unter den weiblichen Komödientypen war diese Figur eine der beliebtesten und diente zahlreichen Terrakottastatuetten als Vorbild (s. Abb. 1). Die Komödien des 4. Jh. wurden in Alexandria zwar wahrscheinlich nicht mehr aufgeführt, aber in der dortigen berühmten Bibliothek gesammelt, bearbeitet und kommentiert, so daß die literarischen Figuren dem gebildeten Bürger vertraut gewesen sein dürften.

Ms ehemalige Hetäre kann man sich unsere Alte durchaus vorstellen, erinnern doch ihre prachtvollen Gewänder und der Schmuck ebenso wie das von der Schulter herabgerutschte Gewand an ihr früheres Gewerbe.

Vermutlich stand das Original der Statue als Weihgeschenk in einem Heiligtum. Mit der Aufstellung einer solchen Figur sollte zum einen der Gott Dionysos, dessen Gabe die Alte ihr Elend vergessen ließ, verherrlicht, zum anderen aber auch die Großzügigkeit des Herrschers gepriesen werden, der selbst die ländliche Bevölkerung und trunksüchtige alte Weiber an seinen Festen teilnehmen ließ. Die Oberschicht konnte zusätzlich an einer solchen Figur ihre Bildung bestätigen und sich über die Außenseiter der Gesellschaft lustig machen.

Die Statue erlangte wohl einige Berühmtheit, wirkte sie doch schon bald nach ihrer Entstehung und bis weit in die römische Kaiserzeit auf Werke der Kleinkunst in Alexandria und Kleinasien ein. Bezeichnenderweise handelt es sich ausschließlich um Figurengefäße (s. Abb. 2). Die vielschichtige Aussage der Statue wird dort völlig auf die Trunksucht - eine Eigenschaft, die man alten Frauen in der Antike besonders häufig nachsagte - reduziert, so ging z.B. der reizvolle Kontrast zwischen dem verdorrten Körper und dem prachtvollen Gewand gänzlich verloren.

Doch auch die Neuzeit hatte Schwierigkeiten mit der Rezeption der Statue. Nach großer Beliebtheit im 17. Jh. sank ihr Ansehen allmählich, bis sie schließlich - als Original - in das Magazin der 1869 gegründeten Münchener Abgußsammlung verbannt wurde. Erst 1895 ließ A. Furtwängler sie in der Glyptothek aufstellen.

(S. Pfisterer-Haas)