Münchner Sagen & Geschichten

Die große Judenverfolgung in München im Jahre 1285, und die Gruftkirche

Mayer - Münchner Stadtbuch (1868)


In München hatten sich schon seit den ersten Zeiten der Entstehung der Stadt Juden angesiedelt, Im Verlaufe jener Zeit war ihre Anzahl nach und nach sehr angewachsen, denn sie hatten sich durch Reichthum sowohl den Fürsten und der Geistlichkeit, als auch selbst der Bürgerschaft unentbehrlich gemacht. Jede Art des Handels war in ihrer Gewalt; sie vermittelten nicht nur den levantischen Handel mit edlen Gewürzen und Früchten, mit Gold, Geschmeide und Edelsteinen, mit köstlichem Pelzwerke, feineren Tüchern und Seidenstoffen, sie trieben auch verkehr und Handel mit Salz, Holz und Wein und anderen Erzeugnissen des bayerischen Bodens. Dabei wurden von ihnen Geldgeschäfte mit gewissenlosem Wucher getrieben, denn der Aufwand und Luxus jener Zeit, dem nicht nur Fürsten und Geistliche, sondern selbst die Bürger sich hingaben, nöthigte diese forwährend Geldhilfe bei den Juden zu suchen, denen das ausschließnde Recht gegeben war, gegen Handschrift oder Unterpfand Geld auf Zinsen auszuleihen, was dagegen den Christen im Mittelalter durch Pabst und Kaiser streng verboten war. So ersehen wir aus dem Eremptionsprozesse des Klosters St. Emmeram zu Regensburg (Zurbgubk Abg, S. 112), daß Aebte bei ihnen oft Meßbuch, Kelche, Kirchenleuchter, Raugefäße und Thorkleider versetzten; Abt Hermann und das Koster Steingaden beklagen sich in einer Urkunde vom Jahre 1287 sehr, daß sie wucherische Zinsen an die Juden bezahlen müssen; in einer Urkunde von 1257 wird Heinrich, Abt von Benediktbeuern, durch einen gewissen Pilgrim aus einer Schuld an die Juden zu fünf Talenten ausgelöset. Als Herzog Otto von Landhut seine Burg, die Trausnitz, erbaute, schoßen die Juden Geld dazu her, wofür er ihnen erlaubte, in der neuen Stadt zu wohnen; ja sie besaßen in Bayern sogar viel Landeigenthum, welches sie als Pfand oder in Hoffnung vortheilhaften Wiederverkaufes inne hatten. In München hatten die Herzoge und die Bürgerschaft ihnen selbst eine eigenen Synagoge gestattet, welche in der nach ihnen benannte Judengasse, - der heutigen Gruftgasse - und zwar an jener Stelle stand, wo bis in die neueste Zeit das Haus des Bäckers Wanney, Nr. 1 sich befand.

In jenen Zeiten aber, dem 12. und 13 Jahrhunderte, tauchte zugleich in allen Ländern Europas eine große, fortwährend sich steigernde Erbitterung, namentlich des gemeinen Volkers, gegen die Juden auf. Erste Ursache und Veranlassung hiezu waren wohl die Kreuzzüge, und die durch dieselben erregte religiöse Schwärmerei. Letztere zeigte sich zuerst in der Raserei der Geißler, welche aus Italien gekommen zu hunderten und tausenden, Männer und Weiber, alle Länder durchzogen und ihre gräßlichen Bußthaten öffentlich zur Schau stellten. Wandernd durch Dörfer, Mörkte und Städte, mit bernnenden Kerzen und Kreuzbildern, nackt bis zum Gürtel, aber das Gesicht mit schwarzen Tüchern verhüllt, wilde Bußgesänge heulend, stellten sie sich angesichts des herbeigelaufenen Volkes in einen großen Kreis und schlugen sich die nackte Brust und Lenden mit Geißeln voller Knoten und Nägel, bis sie unter herabströmendem Blute ohnmächtig zu Boden fielen. Rasch aber hatte sich dieser Fanatismus gegen die Juden gewendet, welche nicht nur Reichthum, sondern auch durch ihren Glauben und durch den Kreuzestod des Herrn der Christen Abscheu waren, der durch diese  Geißler zur Wuth aufgestachelt wurde. Schon bei dem ersten verunglückten Kreuzzuge unter Peter dem Einsiedler glaubten die Schaaren ihren Beruf als Streiter Christi durch grausame Verfolgung der Juden zu bewähren, und es wurden in den Städten am Rheine viele tausend jüdische Familien niedergemetzelt und ihre Habe geplündert. In Mainz suchten die Juden sogar Schutz bei dem Erzbischof Rothart und vertrauten ihm ihre Personen und Schätze an, und dieser barg sie in dem oberen Stockwerk eines festen Hauses. Aber der wilde Graf Emicho von Leinigen stürmte mit einem Schwarm zusammengelaufener Kreuzfahrer das Haus; sie schoßen mit Pfeilen und Speren in dasselbe, sprengten die Schlößer und Thüren; und ermordeten im Hause des Bischofes siebenhundert Juden, Männer, Weiber und Kinder. Als die Juden keine Rettung vor den Mördern fanden, tödteten die Frauen ihre Kinder, die Männer ihre Weiber, und dann sich selbst!

Ein weiterer Grund zu diesen Verfolgungen war aber auch der ganz verarmte und verwilderte Zustand des geringeren Volkes sowohl, als auch der gänzlich verschuldeten Großen. Hiezu kamen noch in diesen Zeiten Mißärndten und Nothjahre, und in Folge dessen eine ungeheuere Sterblichkeit. So fiel z. B. im Jahre 1281 am 17. Juli in ganz Süddeutschland ein so tiefer Schnee, daß die ganze Aerndte vernichtet wurde. Viele Menschen wanderten zur Stillung ihres Hungers nach Ungarn aus, viele starben an schlechter Nahrung, ja es wurde die Sterblichkeit in Folge der Hungersnoth so arg, daß man im nächstfolgenden Jahre 1282 die Todten haufenweise auf den Feldern einsammelte. Durch diesen Nothstand wurde daher auch die Habsucht des Pöbels mächtig angeregt, welcher hoffte, die reichen Schätze der Juden sich aneignen zu können.

Wir sehen nunmehr an vielen Orten Süddeuschlands Judenverfolgungen, wozu immer der Aberglaube des Volkes, und die schnell entstandene und verbreitet Sage, daß die Jeden Brunnen vergiftet und so eine ungewöhnliche Sterblichkeit veranlaßten, oder das sie Christenkinder schlachteten, um mit deren unschuldigem Blute religiöse Ceremonien an ihrem Passahfeste vorzunehmen, oder daß sie mit geweihten heiligen Hoestien argen Unfug und Verunerhrung getrieben, die erste Veranlassung und das erste Zeichen des Aufstandes gab.

Da geschah es auch in München im Jahre 1285, daß eines Tages plötzlich das Geschrei entstand, die Juden hätten einem alten Weibe ein Kind abgekauft oder gestohlen, und hätten dasselbe in einem unterirdischen Keller mit Nadelstichen zu Tode gefoltert. Grund genug, um des Pöbels Wuth auf das Höchst zu entflammen. Er drang mit Gewalt in die Häuser und Wohnungen der Juden, durchsuchte dieselben, ohne jedoch etwas Verdächtiges zu finden, plünderte ihre Schätze, ermordete einen großen Theil der Juden und schleifte ihre Häuser. Das erwähnte alte Weib wurde zu Tode gefoltert, ohne daß man ein Geständniß aus ihr erpressen konnte. – Ein Theil der Juden, welche dem Blutbade entranne, flüchtete sich, und zwar, wie die Sage erzählt, auf Anrathen des Pfalzgrafen Ludwig des Strengen, welcher umsonst zu ihrer Rettung herbeigeeilt war, in ihre Synagoge, das erbitterte Volk aber umstellte und verrammelte die Synagoge, damit kein Jude entrinnen könne, und warf dann Feuerbände in dieselbe. Die ganze Synagoge wurde ein Raub der Flammen, und mit ihr verbrannten 180 Juden, welche sich in dieselbe geflüchtet hatten.

Dessen ungeachtet hatten sich die Juden im Verlaufe der Zeit wieder in München angesiedelt und ihre Synagoge wieder aufgebaut. Herzog Albrecht III. nahm aber im Jahre 1442 Gelegenheit sie aus der Stadt zu weisen, worauf er ihre Synagoge „aus freiem Bedacht“ seinem geschworenen Leibarzte Han Hartlieb, einem gelehrten und respektirten Manne, der in Italien die Azneikunde und Alchemie studiertynagoge in Gruftkapelle der heilgen Jungfrau Maria gewidmet, um und erbaute sich und den Seinen darüber eine Behausung. Die ehemalige Judengasse hieß jetzt die „Schreibergasse“.

In diese Gruftkapelle hatte Herr Doktor Hartlieb ein wunderbares Vesperbild der heiligen Jungfrau Maria gesetzt. „aber eine kurze Zeit hernach“, erzählt Johann Bartholomä Schreckenfuß, der im Jahre 1625 eine Beschreibung der Kirche zu unser lieben Frauen Gruft in Druck herausgab, „ließ sich hier nun unsere liebe Frau mit Gutthaten merklich verspüren, also daß es einen großen Zulauf dahin gegeben.“ Deshalb ließ Her Harlieb aus frommer Gesinnung im Jahre 1450 sein Wohnhaus niederreisen, und erbaute über die Gruftkapelle eine Kirche, welche zum Unterschiede von der alten Pfarrkirche zu U. l. Frau den Namen U. l. Frauen Neustift erhielt. In diese setzte er drei Altäre und versah sie wohl mit Heilthümern. Von nun an wurde diese Gasse die Gruftgasse genannt. Die Kirche und die Gruftkapelle erhielten einen ausserordentlichen Zulauf von Andächtigen; ja selbst die Bischöfe von Freising, Passau und Regensburg kamen hierher, hielten darin ihre Andachten, wohnten den sieben kleinen Tageszeiten bei, die jeden Samstag früh gesungen wurden, und begabten das Gotteshaus mit Ablässen und Indulgenzen.

Aber im Laufe der Zeit veränderte sich vieles; der fromme Eifer hatte nachgelassen, der alte Glaube war erkaltet, diese Kirche wurde weniger mehr  besucht, obwohl sie noch immer in Ehren blieb; aber die unterirdische Gruftkapelle wurde ganz öde und endlich stieg Niemand mehr in dieselbe hinab. So verkam sie allgemach und wurde ein Keller daraus, „zur leeren Fässer und Buttern Behaltnuß.“ Das wunderthätige Vesperbild war vergessen und unbekannt.

Allein ein eigener Vorfall sollte das wunderthätige Bild nach langer Zeit wieder zu Ehren bringen.

Im Püttrich-Regelkloster der Franziskanerinnen auf dem heutigen Max-Josef-Platze befand sich eine Schwester, Namens Katharina Kammerloher, welche schon länger als ein Jahr an heftigen Schmerzen beider Füße krank darnieder lag. Keine Kunst der Aerzte mochte ihr Gebresten heilen oder auch nur lindern, weßhalb sie, auf alle menschliche Hilfe gänzlich verzichtend, ihr Vertrauen und ihre Zuflucht allein zu Gott wendete. Da erschien ihr im Jahre 1612 in einer Nacht im Traume das gedacht Vesperbild, von dem sie vorher doch niemals auch nur die geringste Kenntniß gehabt hatte, und bedeutete ihr, es sei das in der Gruft versteckte Bild. Von diesem Augenblicke an war die Kranke völlig geheilt und aller ihrer Schmerzen entlediget. Der Ruf dieses Wunders verbreitete sich schnell, das vergessene und verlassene Kellerlein wurde gereiniget und man fand wirklich hinter einer Menge alten Gerümpels das wunderthätige Bild.Der fromme Zulauf durch die erneute Andacht von Gebrechen und schweren Anliegen befreit. Die durchlauchtige Frau Mechtild, Herzogs Albrechts VI Gemahlin, welche ein schweres Augenleiden mit gänzlichem Verluste des Augenlichtes bedrohte, wendete sich vertrauensvoll hieher und verlobte zwei ganz goldene Augen in die Gruft, worauf ihr Leiden sich vollkommen hob, und sie sich ihres Augenlichtes wieder erfreute.

Auch Herzog Maximilian I besuchte sehr gern diese Kapelle, und dann wurde jedesmal „eine feine Messe mit künstlichen uns Süßen Instrumenten“ gesungen. Als Herzog Albrechts erstgebornes Söhnlein, Namens Johann 

Franz Karl im Jahre 1620 an schwerer Krankheit darniederlag und es sich hieher verlobte, wurde nach wiedererlangter Genesung des Kindes das Kirchlein mit einer kostbaren Ampel beschenkt, und außen vor der Kirche an der Strasse ein in prachtvollem Erzguß ausgeführtes Bild der seligsten Jungfrau Maria aufgestellt. Viele fromme Geschenke und Vermächtnisse, darunter manche Kostbarkeiten, floßen von nun an reichlich der Kirche zu; ein Kistlein allein enthielt bei tausend Ringe.

Diese Kirche stand bis  zur Säkularisation im Jahre 1805, wo sie in Privatbesitz überging, abgetragen und in ein Wohnhaus umgeändert wurde. Das verehrte Vesperbild kam dabei ebenfalls in Privathände. – Dieses Wohnhaus gehörte, wie schon oben erwähnt, dem Bäcker Wanney, wurde im Jahre 1865 vom Staate zur nothwendigen Vergrößerung des anstoßenden Gebäudes der kgl. Polizeidirektion angekauft, im Jahre 1866 abgebrochen, und gegenwärtig steht an dessen Stelle ein geschmackvoller großer Neubau. Bei diesem letzten Abbruche fand man ein paar alte geschwärzte Mauern, die offenbar noch vom Synagogenbrande herrührten.


125 Jahre Friedensengel