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<p><strong>Der Diskoboi des Myron</strong></p><p>Der Bildhauer Myron aus Eleutherai in Nordattika, der in der Mitte des 5. Jh. v. Chr. wirkte, war für seine naturgetreuen Darstellungen bekannt (Plinius, nato hist. 34,58). Von seinen Kunstwerken ist kein einziges erhalten. In römischen Kopien ist uns neben seiner Athena-Marsyas-Gruppe (Abguß Inv. 234, 355, 356) der Diskuswerfer (Diskoboi) überliefert.</p><p>Die Statue zeigt einen Athleten beim Ausholen vor dem Abwurf der Diskusscheibe. Das Gewicht lastet auf seinem angewinkelten rechten Bein, das entlastete linke ist zurückgeführt. Der muskulöse Oberkörper ist stark nach vorn gebeugt und vollzieht eine Drehung nach rechts. Seine ausgebreiteten Arme führen in einem Bogen von der linken Hand am rechten Knie zum in der anderen Hand gehaltenen Diskus. Diesem gilt die Aufmerksamkeit des Sportlers: der Kopf mit dem kurzen, enganliegenden Haar folgt der Drehung des Oberkörpers.</p><p>Der Diskuswurf gehört zu den Weitwurfdisziplinen. In der Frühzeit war die Scheibe aus Stein (Homer, Odyssee 8, 186 ff.). Die erhaltenen Diskoi sind aus Bronze. Es handelt sich um kreisrunde, dünne Scheiben von 15 bis 34 cm Durchmesser und 1,4 bis 5,7 kg Gewicht, je nachdem, ob sie für Knaben oder Männer bestimmt waren. Der Abwurf erfolgte von einer Markierungslinie (Balbis) aus. Bei den sechs Tage dauernden olympischen Spielen fand der Diskuswurf als Teildisziplin des Fünfkampfes (Pentathlon) neben Sprung, Lauf, Speerwurf und Ringkampf am Nachmittag des dritten Tages statt.</p><p>Myrons Statue wurde häufig kopiert. Wir kennen mindestens sechs großplastische Repliken. Die am besten erhaltene ist die Replik Lancelots, die 1781 auf dem Esquilin gefunden wurde. Anhand dieser Statue gelang Carlo Fea schon 1783 die Identifizierung mit dem von Lukian (Philopseud. 18) beschriebenen Werk des Myron. Von 1938 bis 1948 befand sie sich in der Münchner Glyptothek; seit 1953 ist sie im Thermenmuseum in Rom aufgestellt. Sie überliefert als einzige die richtige Haltung des bruchlos aufsitzenden Kopfes. Die scharfkantigen Augenlider und die hervortretenden Adern (z.B. an den Armen) datieren sie in späthadrianisch-antoninische Zeit.</p><p>Als qualitativ beste Replik wurde schon von Bulle der 1906 in Castelporziano gefundene Torso bezeichnet, der aus der frühen Kaiserzeit stammt und sich jetzt in Rom im Thermenmuseum befindet. Zwei weitere Repliken stammen aus der Villa Hadriana in Tivoli, von denen eine ins Britische Museum, die andere in den Vatikan gelangte. Die Replik in London hat nicht den zum myronischen Original gehörigen Kopf; der Kopist hat den Körper des Diskoboi mit dem Kopftypus eines Werkes des 4. Jh., des sogenannten Sandalenbinders, kombiniert. Die ohne Kopf aufgefundene Statue im Vatikan wurde nach der Londoner Replik ergänzt und hat daher ebenfalls nicht den richtigen Kopf.</p><p>Zu den bekanntesten Beispielen für falsche Rekonstruktionen gehört der zu einem stürzenden Krieger ergänzte Diskobol-Torso im Kapitolinischen Museum in Rom. Eine in spätantoninischer Zeit entstandene Bronzestatuette mit Porträtzügen, die in der Münchner Antikensammlung (Saal IX, Inv. 3012) ausgestellt ist, unterscheidet sich von den Marmorrepliken, dadurch, daß sie den linken, zurückgenommenen Fuß nicht mit nach hinten umgeknickten Zehen aufsetzt, sondern nur mit den Zehenspitzen den Boden berüht.</p><p>Die Haltung dieses linken Fußes war lange Zeit Gegenstand einer heftigen Diskussion um den genauen Bewegungsablauf beim Diskuswerfen in der Antike. Eng damit verbunden war die Frage nach der Uberlieferungstreue unserer Repliken. Zunächst ging man von einem Abwurf aus dem Stand aus und sah beim Diskuswerfer des Myron die kurze Ruhephase dargestellt, in der sein rechter Arm von einer Pendelbewegung nach hinten in die Bewegung nach vorne übergeht. Jedoch konnte man sich dabei nicht die von allen Repliken überlieferte Haltung des linken Fußes mit nach hinten umgeknickten Zehen oder gar aufgesetzten Zehenspitzen erklären. Diese labile Haltung des schleifenden Fußes paßt tatsächlich zu keiner Phase des beschriebenen Bewegungsablaufes. Einige Archäologen nahmen daher an, daß in dem Kunstwerk eine aus verschiedenen aufeinanderfolgenden Bewegungen bestehende Aktion zu einem wirksamen Bild verbunden sei. W. Schröder dagegen erklärte die Überlieferung des linken Fußes mit dem Unverständnis des Kopisten. Kühn rekonstruierte er den Diskoboi, wie er nach sporttechnischen Überlegungen dargestellt worden sein mußte: mit aufgesetztem Ballen und somit festerem Stand. Auf seinen Überlegungen aus dem Jahr 1913 beruht schließlich eine Gipsrekonstruktion, auf die auch der Abguß der Münchner Sammlung zurjickgeht.</p><p>Der Münchener Gips ist also kein Abguß einer der zahlreichen Repliken, sondern der Versuch einer Rekonstruktion: auf den Torso der qualitätvollsten Replik aus Castelporziano wurde der Kopf der Replik Lancelotti gesetzt. Die von allen Kopien überlieferte Haltung der rechten Hand mit der bis zu den Mittelgliedern der Finger umfaßten Diskusscheibe erschien Schröder für einen schnellen Abwurf ungeeignet, weswegen der Diskus bei seiner Rekonstruktion nur auf den Endgliedern der weiter gespreizten Finger liegt. Wie beschrieben ist der linke Fuß mit aufgesetztem Ballen wiedergegeben. J. Sieveking erkannte jedoch, daß beim Diskoboi keine Pendelbewegung, sondern eine Torsion um die eigene Achse gemeint ist. Der Athlet ist in dem Augenblick dargestellt, in dem er von einer schwungholenden Drehbewegung nach rechts in eine kräftige und ruckartige Drehung nach links übergeht. Der Abwurf erfolgt nach einer halben - oder, wie Buschor vorschlug, nach einer und einer halben - Drehung um die Körperachse nach links vom Betrachter. Myron hat also einen aus dem vielfältigen Bewegungsablauf bestimmten fruchtbaren Moment (kairös) festgehalten. So erklärt sich das Motiv des schleifenden Fußes, der bei der Münchner Bronzestatuette mit aufgesetzten Zehenspitzen wohl am getreuesten wiedergegeben ist. Die Umsetzung des Bronzeoriginals in Kopien aus Marmor erforderte eine gewisse Stabilisierung durch das Umknicken der Zehenspitzen nach hinten. Doch ist auch in dieser Stellung der Diskusabwurf nach einer Drehbewegung möglich. Ausgeschlossen jedoch ist der von Schröder rekonstruierte und im Münchner Gips festgehaltene linke Fuß mit aufgesetztem Ballen. Nach jüngsten sporttechnischen Untersuchungen von Anschütz und Huster scheint übrigens der von allen Kopien überlieferte schleifende Fuß auch bei einer Pendelbewegung, wie sie schon ursprünglich vermutet wurde, möglich zu sein.</p><p>Der Aufstellungsort des Originals ist unbekannt. Da eine Diskoboldarstellung auf einer Gemme im Britischen Museum die Beischrift "Hyakinthos" trägt, wollte man den myronischen Diskuswerfer mit diesem unglücklicherweise beim Diskusspiel von Apollon getöteten Heros aus Amyklai bei Sparta identifizieren, und in Sparta, wo das Fest der Hyakinthiai gefeiert wurde, den Aufstellungsort des Originals sehen. Diese Hypothese läßt sich jedoch nicht beweisen.</p><p>(Chr. Löhr)</p>