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Mayer - Münchner Stadtbuch (1868)
Gegen Ende des vorigen Jahrhundertes lebte in einem Dörfchen des Rotthales, jenes gesegneten und reizenden Landstriches, welcher sich in Niederbayern von Neumarkt bis an den mächtigen Innstrom hinzieht, eine Söldnerfamilie, bestehend aus den beiden Aeltern und einer Tochter, Adelheid. Das kleine Gütchen lieferte nur geringen und spärlichen Ertrag, kaum hinreichend, ungeachtet des emsigsten Fleißes der Familie deren Leben zu fristen und ihre dringendsten Auslagen zu bestreiten. Dabei waren sie aber von acht altbayerischer Biederkeit und Rechtschaffenheit, und die junge Adelheid galt zudem als das bravste und schönste Mädchen des Rotthales, das ohnedieß wegen der schönen und kräftigen Gestalten seiner Bewohner nicht kleinen Ruf genießt.
Da schlich sich leider die Liebe in das Herz der jungen Adelheid; sie sollte aber nicht die Bringerin reicher Freuden, sondern vielmehr herben Schmerzes werden. Ihr Geliebter, Martin Fellner, der einzige Sohn einer eben so braven aber auch eben so armen Söldnersfamilie
aus dem nämlichen Torfe, hatte ungeachtet feines unermüdeten Fleißes keine Aussicht, seine Geliebte je als
Gattin heimzuführen; dennoch blieb ihre Liebe innig und standhaft. Bald aber brachte ihr zu inniges Verhältniß das erste Weh; Adelheid fühlte sich Mutter, und nach einiger Zeit wiegte sie einen holden Knaben in ihren Armen. Die Seligkeit der Mutterfreuden ließ sie die Schande und den Spott der Nachbarn vergessen; ausser der Zärtlichkeit zu ihrem Kinde kannte sie nur das inbrünstigste Gebet zu Gott und namentlich zur allerseligsten Mutter Gottes von Altötting um Hilfe und Wendung ihres Elendes und ihrer Noth.
Da träumte ihr in einer Nacht, daß ihr die holdseligste Jungfrau Maria erschienen sei; diesen wunderbaren Traum theilte sie einer Nachbarin mit, die ihr denselben auslegte und sie überredete, die darauf treffenden Nummern in die Lotterie zu setzen. Adelheid befolgte den Rath, und siehe! das Glück war ihr unverhofft günstig; nach einigen Tagen bekam sie wirklich einen Gewinnst von 1000 Gulden. Es schien als sollte auf diese Weise das inbrünstige Gebet erhört werden und wollten sich dadurch die Verhältnisse der armen Familie besser gestalten; aber nach kurzer Zeit brachen die herbsten Trübsale erst recht herein.
Martin, ihr Geliebter, ward, da die Napoleon'schen Kriege ganz Europa erschütterten, zum Soldaten ausgehoben. Zu gleicher Zeit wurden seine Aeltern von hartherzigen Gläubigern auf das äußerste gedrängt, und nur dadurch, daß Adelheid mit 400 fl. aus ihrem gewonnenen Gelde die Gläubiger befriedigte, konnte sie die gerichtliche Gant von dem Anwesen der Aeltern ihres Martin
abwenden und ihnen ihr kleines Eigenthum erhalten. Kaum war aber dieser Sturm glücklich vorübergegangen, so brach über ihre eigenen Aeltern die Gant aus, und der noch vorhandene Rest des Gewinnstes reichte nicht hin, das Anwesen derselben zu retten. Ihre Aeltern mußten klagend und weinend von ihrem kleinen Gütchen abziehen, das jetzt in die Hände der unbarmherzigen Gläubiger gerieth, und sahen sich gezwungen, die Gegend zu verlassen und in ihre Heimat, die Rheinpfalz, zu ziehen. Adelheid aber verblieb einstweilen mit ihrem Kinde bei Martin's Aeltern.
Da kam im Jahre 1807 der Krieg gegen Preußen, und Martin mußte mit der bayerischen Armee, die sich an Frankreichs Kaiser angeschlossen hatte, weitentlegenen Schlachtfeldern zueilen. In dieser schlimmen Lage wollte Adelheid den dürftigen Aeltern ihres Martin nicht länger überlästig fallen; sie gab daher ihr Kind zu zwar armen aber braven Leuten in Allach, drei Stunden von München, in Kost und Pflege, sie selbst aber ging nach München und trat in einem Bürgershause als Magd in Dienst.
Martin hatte sich während dessen als Soldat tapfer und tüchtig bewiesen; als der Friede von Tilsit den Krieg beendigte, kehrte er als Sergeant mit den siegreichen Bayern in die Heimat zurück. Nicht lange aber genoßen die Liebenden das Glück des Wiedersehens; im Jahre 1809 brach mit dem Aufstande der Tyroler der Krieg mit Oesterreich aus, und neuen Schlachtfeldern, neuen Kämpfen zogen die tapfern Bayern entgegen. Martin machte diesen Feldzug mit als Lieutenant.
Während desselben schien ein Strahl des Glückes auf unsere Adelheid herableuchten zu wollen. Ihr Martin lag mit der bayerischen Besatzung in Kufstein. Da ergriff sie eine unnennbare Sehnsucht der Liebe und trieb sie, nach so langer Zeit ihren Geliebten wieder zu sehen. Mit Erlaubniß ihrer Dienstherrschaft trat sie die Reise nach Kufstein zu Fuß an. Müde rastete sie unterwegs unweit der Grenze an einem sogenannten Marlersteine, und verrichtete an demselben, welcher das Bild der heiligen Mutter Gottes trug, ihr Gebet. Als sie sich dann an der Säule aufrichtete, löste sich aus derselben ein Stein ab, es zeigte sich eine kleine Höhlung, in der ein Kästchen lag. Verwundert nahm es Adelheid heraus, und mit noch größerem Erstaunen erblickte sie in demselben eine Menge Goldstücke sammt einem Zettel, auf welchem stand, daß ein Tvroler im Jahre 1805 hieher sein Vermögen rettete, und, falls er im Kriege umkomme, der einstige Finder es zu christlichen Werken verwenden solle.
Froh über diesen Fund eilte sie hinein nach Kufstein, und bald lag sie mit Freudenthränen am Halse ihres Geliebten. Nachdem der erste Freudenrausch vorüber war, beschlossen beide, daß Adelheid mit dem gefundenen Gelde, das nahezu 1800 Gulden betrug, nach München zurückkehre, ihr Kind, den kleinen Max, zur Erziehung zu sich nehme und daß sie beide nach geendigtem Kriege dann die Erlaubniß zu ihrer Verehelichung zu erhalten suchen wollten. Froh über diese Hoffnung kommender glücklicher Tage eilte Adelheid wieder nach München zurück, woselbst sie der getroffenen Verabredung gemäß eine kleine Wohnung bezog und ihren Max zu sich nahm.
Der Krieg war endlich beendigt, Oberlieutenant Martin kehrte nach München zurück, und die Liebenden warteten nun mit süßer Hoffnung, daß Martin bald eine Hauptmannsstelle erhalten werde und sie dann das Ziel ihrer Wünsche, die Heiratserlaubniß, erreichen könnten.
Doch der Himmel hatte anders beschlossen. Der unersättliche Kaiser Napoleon wollte in seinem gigantischen Streben nach der Weltherrschaft die russische Monarchie zertrümmern und führte im Jahre 1812 unermeßliche Schaaren von Kriegern in die Eisfelder Rußlands. Bayern als Verbündeter des französischen Kaisers mußte sich mit einer Armee von 4ö,W0 Mann seiner blühendsten Jünglinge dem gewaltigen Heereszuge anschließen. Auch Oberlieutenant Martin war unter diesen Kriegern. Schmerzvoll war der Abschied desselben von Adelheid und dem kleinen Max; nur die Hoffnung tröstete sie, daß Martin auch aus diesem Kriege ungefährdet wiederkehren und dann der Erreichung ihrer heißen Wünsche kein Hinderniß mehr entgegen stehen werde. Martin empfahl seine Geliebte und feinen Mar dem Schutze Gottes und legte Ersterer besonders ans Herz, für das Wohl ihres Söhnchens alle mögliche Sorgfalt zu tragen.
Am nächsten Morgen war der Ausmarsch. Adelheid wollte durchaus ihren Martin noch einmal sehen, und drängte sich daher mit. ihrem Mar — er war jetzt sechs Jahre alt — unter die Menge der Menschen am Schrannenplatze, wo die Soldaten vorüberzogen. In Gebet und Thränen versunken kniete sie an der Säule der heiligen Jungfrau nieder.
Da zogen Mann an Mann die Bataillone vorüber
unter den fröhlichen Klängen der Musik; endlich nahte die fünfte Kompagnie des Schützenbataillons mit ihrem Hauptmanne Grafen von Khuen, an seiner Seite marschirte Oberlieutenant Martin. Er erblickte die Adelheid und seinen Mar, grüßte dieselben noch einmal und verschwand dann unter den fortschreitenden Reihen der Soldaten.
Da vermeinte Adelheid, ihr Herz müsse brechen; ein unendliches sehnsuchtsvolles Weh durchschauerte ihre Brust, sie konnte es nicht fassen, ihren Martin vielleicht zum letztenmal gesehen zu haben; — sie mußte ihn noch einmal sehen. Rasch war sie entschlossen; den Knaben führte sie zur Mariensäule und sprach: „Hier warte, lieber Mar, und geh' nicht von der Stelle bis ich wieber komme, ich muß schnell dem Vater noch etwas sagen." Mit diesen Worten eilte sie der Weinstraße zu und verschwand um das Lindwurmeck.
Vor dem Schwabingerthor machte das Bataillon einen kurzen Halt; hier erreichte Adelheid die Soldaten, sah einen Augenblick ihren Geliebten, aber im nächsten Momente war er wieder in raschem Marsche ihren Augen entschwunden. Sie wollte daher eilig wieder nach dem Schrannenplatze zurückkehren; aber unterwegs, iin Gedränge des Menschengewühles, welches die abziehende Artillerie schauen wollte und in Folge des steten Ausweichens vor den ihr entgegenströmenden Leuten, glitt sie am schlüpfrigen Boden, — es hatte Tags zuvor heftig geregnet, — aus. Sie siel und gerieth unglücklicherweise unter das Rad einer Kanone. Nach einem lauten Schrei schwanden ihr die Sinne.
Von mitleidigen Menschen aufgehoben, wurde sie in das Haus eines benachbarten Wundarztes getragen, welcher fand, daß ihr der eine Fuß gebrochen war. Nach hergestelltem Verbande kam sie gegen Abend wieder zu sich, und ihre ersten Worte fragten nach ihrem Sohne Mar. Auf ihre Bitten begab sich ein altes Weib auf den Schrannenplatz zur Muttergottessäule, wo der Knabe, der schon lange warte, zu finden sein werde. Aber nach kurzer Weile kam das Weib allein zurück; sie hatte den Knaben nicht gefunden, um die Mariensäule war alles leer! Lautlos siel bei dieser Schreckensnachricht die unglückliche Mutter in die Kissen des Lagers zurück; die Sinne waren ihr neuerdings gewichen.
Des andern Morgens wurde die Arme in einer Sänfte in das Spital gebracht. Bewußtlos brachte sie dort vier Wochen zu. Endlich waren zwar ihre Wunden geheilt, aber die gewaltige Erschütterung und die Verzweiflung hatten ihren Geist zerrüttet: sie war stumpfsinnig geworden!
Kehren wir zu dem Knaben zurück. Mar war, gehorsam dem Befehle, bei der Säule geblieben. Obwohl ihm die Zeit lange wurde, und seine Mutter immer nicht zurückkam, hatte er doch anfangs mancherlei Zerstreuung, denn der lang andauernde Vorbeimarsch der Soldaten, die Musik, das Gewühl der Menschen fesselten seine Aufmerksamkeit. Endlich hungerte ihn, sehnsuchtsvoll schaute er nach allen Seiten, ieden Augenblick das Herannahen der Mutter erwartend, — sie kam nicht; es sing ihn Nachmittags in der naßkalten Witterung zu frösteln an, — die Mutter kam noch nicht, es brach die Dunkelheit herein, —
die Mutter kam noch immer nicht! Da überkam den armen Knaben Angst und Furcht; laut weinend lief er nach der
Nymphenburgerstraße, wo seine Mutter und er wohnten. Er klopft an die Thüre der Wohnung, er läutet an der Thürglocke, er ruft und schreit, — vergebens, — keine Mutter kömmt ihm die Thüre zu öffnen. Endlich faßt der arme Junge den Entschluß, wieder in die Stadt zu eilen, um bei Bekannten Stillung seines Hungers und Unterkunft zu finden. Unterwegs fährt ihm ein Postwagen aus der Stadt entgegen. Der Postillon blies eben ein fröhliches Lied. Da kommt dem Knaben der plötzliche Gedanke: „Der fährt den Soldaten und meinem Vater nach!" Rasch schwingt er sich hinten auf den Wagen, fetzt sich in den Gepäckkorb und wickelt sich in eine darin befindliche Strohmatte; — so fuhr er fort.
Am folgenden Morgen langte der Postwagen auf einer entfernten Station an. Der Knabe erwachte aus seinem tiefen Schlafe. Verwundert erblicken der Posthalter und seine Leute den blinden Passagier, der unaufhörlich fragt, wo sein Vater sei? Theilnehmend erkundigen sich die Posthalterseheleute um ihn; er erzählt mit kindlichen Worten, wie es ihm ergangen. Er weiß, daß sein Vater Offizier ist, aber dessen Namen kennt er nicht; er weiß, daß seine Mutter Blumen und Kränze mache und verkaufe, aber er kann sie nicht näher bezeichnen; er erzählt von seinen früheren Pflegeältern, aber er weiß weder den Namen derselben, noch des Dorfes, worin sie wohnen. Die Posthalterseheleute mochten wohl wähnen, daß das arme Kind von seiner leichtfertigen Mutter verlassen worden
sei, da ihnen aber das schöne Gesicht und das offene Wesen des holden Kindes gesiel, so beschlossen sie in ihrer Gutherzigkeit, den hilflosen Knaben einstweilen zu behalten, bis es ihnen allenfalls gelingen werde, die Aeltern desselben auszuforschen.
Es war am Anfange des Frühlinges 1814, als einzelne Häuflein bayerischer Krieger, die vor vierzehn Monaten mit der großen Armee des unüberwindlichen Kaiser Napoleon in die sernen Steppen Rußlands gezogen waren, in bemitleidenswerthem Zustande in der Hauptstadt München wieder eintrafen; klägliche Reste der ehemaligen glänzenden Münchener Garnison, nun in Lumpen gehüllt, mit erfrorenen Gliedmassen, Zeugen des erlittenen größten Elendes und Unglückes! Am Ende dieses Zuges schritt eine seltsame Weibsperson. Sie war offenbar noch in ziemlich jungen Jahren, aber ihre bleichen und eingefallenen Gesichtszüge trugen die Spuren großen Kummers und tiefen Jammers, aus ihren Augen leuchtete ein zerrütteter Geist! Ihr Anzug war eben so auffallend; sie war in beinahe bauerischer Tracht gekleidet, trug einen schwarzen Rock und darauf eine hellblaue leinene Schürze, am Kopfe ein breites Kopftuch, unter dem Arme einen großen Bündel und in der Hand einen rothbaumwollenen Regenschirm. Mit den Zügen der einzelnen Häuflein Soldaten langte sie am Schrannenplatze bei der Hauptwache an. Dann aber trat sie vor die Mariensäule, stand vor derselben stundenlang und stierte mit glanzlosem Auge zum Bildnisse der Mutter Gottes empor.
Von nun an erschien diese Arme — sie war unsere
Adelheid, tagtäglich an der Mariensäule in derselben sehr abgebleichten Kleidung, mit ihrem Bündel und Regenschirme, und harrte den ganzen Tag an dieser Stelle, mit trüben und stieren Blicken zum Marienbilde hinaufstarrend. Weder der Hohn und Spott der Menschen, noch die Elemente, Sturm, Regen oder Schnee konnten sie verscheuchen. Fragte man sie, wen sie suche oder erwarte, so antwortete sie mit abgestorbener eintöniger Stimme: „Mein Kind!" Anfangs war ihr tägliches Erscheinen an dieser Stelle dem Münchener Publikum auffallend; nach und nach gewöhnte man sich an ihre Erscheinung, und ließ ihr Treiben unbehelligt, als das einer Geisteskranken. Im Volke hieß sie allgemein „die stille Beterin." Nach ungefähr zehn Jahren änderte sie ihre Lebensweise nur dahin ab, daß sie nach Verlauf einer Woche acht Tage lang ausblieb; sie wanderte von der Mariensäule regelmäßig nach Altötting zur dortigen Gnadenkirche und kam dann wieder regelmäßig nach München zurück, um nach Verlauf von acht Tagen ihre Wallfahrt nach Altötting aufs neue anzutreten.
Dieses geschah wieder eine lange Reihe von Jahren, bis sie auf einmal verschwunden und verschollen war. Man hielt sie längst für todt und das Publikum hatte sie bereits vergessen, als unerwartet plötzlich im Jahre 1853 bekannt wurde, daß durch die Gnade Königs Ludwig I. ein armes altes Weiblein in das Josefspital eingekauft wurde, welches Adelheid, die stille Beterin, war.
Dort lag sie, krank an Geist und Körper, ohne jegliche Erinnerung an ihre erlebten traurigen Schicksale, ruhig und still auf ihrem Lager, bis sie endlich am
25. März 1854, dem Feste Maria Verkündigung, ihr leidenvolles Leben beschloß. Möge die arme Dulderin wohl ruhen im Schooße der Erde!
Ueber die ferneren Erlebnisse ihres Sohnes Mar haben wir keine sichere Kunde. Ohne Zweifel bekam er nie Kenntniß von dem herben Schicksale seiner Mutter und liegt wohl längst im stillen Grabe!
Auch von dem Oberlieutenant Martin Fellner hat man nie wieder gehört! Wahrscheinlich deckt russische Erde seine Gebeine!